Wimbledon

Novak Djokovic: Ein einfacher Trick macht den Tennis-Star so stark

Novak Djokovic ist der erfolgreichste Tennis-Spieler aller Zeiten. Doch wie konnte aus dem ungewöhnlichen Jungen aus Serbien einer der weltbesten Athleten werden? Wir haben ihn getroffen – und seinen Geheimtrick herausgefunden.

Tennis-Star Novak Djokovic
Credit: Getty Images

Kein Stadtmarkt ohne mindestens einen T-Shirt-Stand. So auch am Eingang vom Kalemegdan-Park am Ende der Fußgängerpromenade von Belgrad. Dort hat man im Wesentlichen die Auswahl zwischen zwei Motiven: Novak Djokovics vor Anstrengung verzerrtes Gesicht, entstanden mit Sicherheit im Kampf um diesen oder jenen Tennis- Titel. Oder Nikola Tesla, der serbisch-amerikanische Erfinder und Ingenieur, vornehmlich bekannt für seine bahnbrechenden Wechselstromexperimente Ende des 19. Jahrhunderts. So viel zu dem Ansehen, das Djokovic in seinem Heimatland genießt.

Novak Djokovic: Der Held, der die Tennis-Welt veränderte

Um Djokovics Ansehen in der Tenniswelt ist es ähnlich bestellt. Mit dem einen Unterschied: dass ihm dort überhaupt niemand mehr das Wasser reichen kann. Er ist nicht nur der Held einer Generation – er ist ein Held, der seine Welt verändert hat. Ein Held, der ähnlich wie Tesla – der übrigens ebenfalls groß und schlaksig war und manchmal im Schatten seiner Konkurrenten stand – ein Techniker und Futurist ist. Einer, der ständig an den Grenzen des Möglichen rüttelt.

Nach einem Jahr 2023, in dem er – wieder einmal – drei von vier Grand-Slam-Turnieren gewann, startete Djokovic ins Jahr 2024, indem er bei den Australian Open fünf Matches gewann – ein Turnier übrigens, aus dem er schon zehnmal als Sieger hervorgegangen ist. Obwohl er bei seiner Niederlage im Halbfinale gegen den 22-jährigen Jannik Sinner ungewöhnlich behäbig spielte, bleibt Djokovic – der kürzlich 37 Jahre alt wurde – die Nummer 1 in der Weltrangliste.

In diesem Tennis-Sommer will Djokovic seiner Sammlung einen 25. Grand-Slam-Turniersieg hinzufügen. Schon jetzt sind es die meisten in der Geschichte des Tennissports, egal ob Mann oder Frau, tot oder lebendig. Es ist eine dieser Sportstatistiken, die man gern einfach gedankenlos herunterleiert. Lassen Sie uns also kurz innehalten und uns vergegenwärtigen, was das bedeutet. Tennisikone John McEnroe beispielsweise gewann sieben Grand-Slam-Turniere, Jimmy Connors acht. Djokovic mit seinen aktuell 24 hat mehr Trophäen nach Hause geholt als Andre Agassi (8) und Pete Sampras (14) zusammen.

Djokovic: Deswegen ist er der beste Tennis-Spieler aller Zeiten

Ein Jahrzehnt lang stritt die Tenniswelt um die müßige Frage: Wer ist der GOAT, der "Greatest Of All Times"? Ein ewiges Dreier-Derby zwischen Djokovic, Roger Federer und Rafael Nadal. Vor drei Jahren waren sie mit je 20 Grand-Slam-Turniersiegen noch gleichauf. Aber jetzt? Federer gab sich mit diesen 20 zufrieden und zog sich aus dem aktiven Sport zurück. Nadal hat aktuell 22, aber wenige Monate vor seinem 38. Geburtstag hat sein Körper die Komplettverweigerung ausgerufen, sodass es wohl kaum zu weiteren Titeln kommen wird.

Novak Djokovic
Novak Djokovic
Credit: Sports Illustrated
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Und dann ist da noch Djokovic, der dem Alter ein Schnippchen schlägt, indem er ohne irgendwelche erkennbaren Verschleißerscheinungen einfach immer weitermacht.

Viele Top-Sportler gehen zurückhaltend, teils sogar verlegen mit ihrem Ruhm und ihrer Langlebigkeit um. Sie lassen ihre Überlegenheit von anderen sezieren, während sie selbst nur Plattitüden von sich geben oder sich heimlich durch die Hintertür aus der Umkleide schleichen.

Grübler und Suchender Djokovic

Djokovic aber wählt aus Prinzip nie den konventionellen Weg. Wo andere Sportler/Promis/Menschen X sagen, sagt er Y. (Ein kleiner Exkurs zu einem von zahlreichen Beispielen: Djokovic hält den Kreis seiner Vertrauten mehr als klein. Dieses Gespräch wurde teilweise von seinem Manager Carlos Gómez Herrera vermittelt, der gleichzeitig auch sein Trainingspartner ist.)

Und als jemand, der mit einer natürlichen ausgeprägten Neugierde gesegnet ist – ein "wahrer Suchender", wie Agassi Djokovic einmal bezeichnete –, grübelt er selbst nur zu gern über das Geheimnis seiner eigenen Unvergleichbarkeit.

Er findet seine Einzigartigkeit nicht minder interessant und amüsant als wir. So wie er Besucher gern durch Belgrad führt, um seine Lieblingsecken der Stadt zu zeigen, bietet er mit bemerkenswerter Offenheit kommentierte Führungen durch seinen Körper und Geist an. Aber wie ist er eigentlich so verdammt gut geworden? Wie genau hat er es zum glaubwürdigen Kandidaten für den Posten des besten Sportlers auf diesem Planeten gebracht? Lassen wir uns bei der Suche nach der Antwort auf diese Fragen doch einfach von ihm selbst führen.

Djokovic sitzt im Konferenzraum seiner Stiftung nahe dem Zusammenfluss von Donau und Save und schlägt vor, dass wir mit den natürlichen Grundlagen anfangen – der "genetischen Prädisposition", wie er es nennt. Einfach ausgedrückt hat er mit seinen 1,88 Meter bei einem Gewicht von knapp 80 Kilogramm und einem Körperfettanteil von praktisch null den idealen Tennis-Körper. Er arbeitet zwar an diesem Körper, konnte sich aber auch immer schon so verrenken, dass jede Ballerina vor Neid erblassen würde. "Meine Mom hat einen Abschluss an der Sport-Uni gemacht", erzählt er. "Sie hat Volleyball gespielt und geturnt. Sie ist ziemlich schlank und groß." Sein Vater Srdjan und seine Mutter Dijana waren zu Zeiten Jugoslawiens im Ski-Kader des Landes.

"Red Bull Pizza": Djokovics Leben in Armut

Weiter geht es mit seiner Erziehung und Ausbildung und den Bedingungen, unter denen er aufwuchs. Djokovic kam 1987 in Belgrad zur Welt. Als zwei Jahre später Jugoslawien zerbrach, zog die Familie in den vier Fahrtstunden weit entfernten Gebirgsort Kopaonik nahe der Grenze zwischen Serbien und dem Kosovo. Dort eröffnete die Familie Djokovic ein Lokal namens "Red Bull Pizza".

Zu behaupten, das Geld sei knapp gewesen, wäre noch untertrieben. Dijana und Srdjan pushten den ältesten ihrer drei Söhne gnadenlos. Einerseits, weil sie wollten, dass er seine sportliche Begabung bis zum Maximum auskostete – aber auch aus finanziellen Nöten heraus. Als sich irgendwann zeigte, dass er realistische Aussichten auf eine vielversprechende Karriere hatte, schickten sie ihn auf eine Akademie in Deutschland. Dort bekam Djokovic von der Frau des Trainers den Spitznamen "die Jacke" – weil er keine hatte.

Ehe Djokovic 2003 Profi wurde, musste sich die Familie Geld von Kredithaien leihen, um seine Reisen und das Training bezahlen zu können. Djokovic erzählt die Geschichte, wie sein Vater einen Zehn-Mark-Schein auf den Tisch legte und der Familie sachlich mitteilte: "Das ist alles, was wir haben." Djokovic erinnert sich: "Wir standen für Brot an – einen Laib Brot, von dem wir alle den ganzen Tag lang lebten. Das sind die Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin. Ich glaube, das hat dabei geholfen, mich zu dem Menschen zu machen, der ich heute bin. Und es hat mir geholfen, zu erkennen und wertzuschätzen, was ich alles besitze."

Die Prinzipien des Tennis-GOATS

Die Verzweiflung und die Überlebensstrategien der Familie spiegelten die Stimmung im gesamten Land wider. Serbien wurde 2006 nach der Abspaltung Montenegros ein offiziell unabhängiger Staat. Doch das war nur die neueste von zahlreichen Erschütterungen, die die Region bereits durchlebt hatte. Djokovic erzählt gern und häufig, dass Belgrad über 40-mal besetzt wurde. "Häufiger als jede andere Stadt der Welt!", fügt er hinzu. Und verdammt sei er, wenn er all das nicht in sein Spiel einfließen lassen würde. Alles Lektionen, die sich tief in sein Verhalten eingebrannt haben – von seinem Spielstil bis zu seiner Einstellung. Verteidigung ist wichtig. Entwickle dich stets weiter. Zeige Skepsis gegenüber Konkurrenten. Lerne, mit Konflikten umzugehen.

Novak Djokovic
Novak Djokovic
Credit: Sports Illustrated
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Doch nicht minder wichtig als die geografischen Faktoren war für Djokovics Schicksal das Timing. Als er 2008 mit einem lauten Knall in der Tennisarena aufschlug, indem er sein erstes Grand-Slam-Turnier gewann, hatte es sich der Tennissport schon in der Ära Federer/ Nadal bequem gemacht. Die zwei Spieler, beide aus bekannten Ländern (Schweiz und Spanien), wirkten wie eine klassische Kontraststudie. Auf der einen Seite Anmut und Stil des Rechtshänders Federer, auf der anderen der heftige, wilde Kampfgeist des Linkshänders Nadal. Für jeden Geschmack war etwas dabei – doch gleichzeitig boten diese beiden Regenten, die einander mit größter Wärme und Höflichkeit behandelten, eine der seltenen Konkurrenzsituationen im Sport, in denen man eigentlich gegen keine der beiden Seiten etwas haben kann.

Und dann tauchte auf einmal dieser übermäßig selbstbewusste Junge aus Serbien (Serbien?!) mit dem Bürstenschnitt auf der Bildfläche auf und störte nicht nur die Zweierrivalität, sondern die ganze Geschichte, die bisher doch so leicht zu erzählen gewesen war.

Chaosstifter neben Rafael Nadal und Roger Federer

Selbst als die Tennis-Flaneure Djokovic nach und nach (und teilweise nur widerwillig) akzeptierten und es ihm gelang, aus der Rivalität eine Trivalität zu machen, blieb er der Wadenbeißer, der Chaosstifter, der störende Dritte, der den beiden großen Eckpfeilern in Sachen Beliebtheit und Schliff nie das Wasser reichen konnte. Es lässt sich auch nicht eben behaupten, dass Federer und Nadal ihn mit offenen Armen in ihrer Gemeinschaft willkommen hießen. Djokovic weiß noch, wie er 2012 im Finale der French Open Nadal gegenüberstand. Vor dem Match lief Nadal in der kleinen Umkleide im Roland-Garros-Stadion herum, die sie sich teilten, und hörte über Kopfhörer so laut Musik, dass Djokovic den Text verstehen konnte. "Ich stand doch direkt neben ihm", sagt er. "Stinkwütend hat mich das gemacht."

Djokovic verlor das anschließende Spiel. Doch rückblickend begriff er, dass diese Szene in der Umkleide eigentlich ein Segen war – eine frühe Lektion, dass der Wettbewerb lange vor dem ersten Ballwechsel beginnt. Schon bald, erzählt Djokovic, begann er sich für den Kampf zu wappnen und jede noch so kleine, vielleicht auch nur eingebildete Kränkung – "wer bekommt unter der Dusche mehr Shampoo, wer das bessere Handtuch, solche Sachen" – zu seinem Treibstoff zu machen. "Das motivierte mich, selbst Sachen zu machen und zu zeigen, dass ich bereit bin. Bereit für den Kampf. Bereit für den Krieg."

Für die beiden anderen Jungs waren Turniere egal wo auf der Welt letztlich Heimspiele. Djokovic spielte überall auswärts. "Fast meine gesamte Karriere über habe ich mich in feindseligen Umgebungen bewegt. Da habe ich eben gelernt, in dieser Atmosphäre zu gedeihen", sagt er. "Die Leute glauben, dass es sogar besser ist, wenn mich die Fans nicht mögen. Um das Beste aus meinem Tennis herauszuholen."

McEnroe teilt seine Meinung: "Mit Abstand am besten habe ich ihn spielen sehen, wenn die Zuschauer gegen ihn sind. Bei mir selbst war das auch häufiger mal der Fall. Aber es hatte nie solche Auswirkungen wie bei Novak. Ich bin nicht ansatzweise so gut damit zurechtgekommen."

Schokolade statt Konsole

Im Schmelztiegel dieser ablehnenden Zuschauermengen schmiedete Djokovic Strategien und Bewältigungsmechanismen. Das ging so weit, dass er versuchte, sich davon zu überzeugen, dass die Fans ihn nicht ausbuhten, sondern bejubelten. Dass sie nicht "Roger, Roger!" oder "Rafa, Rafa!", sondern "Novak, Novak!" riefen. Seine Strategie sollte dazu führen, dass er zunächst mit den beiden gleichzog und schließlich ihre Rekorde brach.

Wie Djokovic selbst hinzufügt, hat er aber auch davon profitiert, als Letzter zu diesem Trio hinzugestoßen zu sein. Er wusste genau, wie er sein Spiel an sie anpassen musste, um sie zu besiegen. Und er wusste genau, wie viele Grand-Slam-Turniersiege er benötigte, um sie auszuschalten. "Weil ihr Spiel so gut und konstant war und weil sie geistig so gefestigt waren, war ich gezwungen, mich auf ihr Niveau hochzuarbeiten", sagt er. "Die Rivalität hat mir die Möglichkeit gegeben, zu verstehen, wo meine Schwächen liegen. Welche Nachteile ich im Vergleich zu ihnen mitbringe."

Wie alle wahren Größen, egal in welchem Bereich, ist er ein Meister darin, Variablen zu eliminieren und so viele erfolgsentscheidende Faktoren wie möglich zu kontrollieren. Seine Konkurrenten mögen sich bei "Dunkin’ Donuts" den Bauch vollschlagen oder Videos von sich posten, in denen sie mit ein paar Dosen Mountain Dew neben der Konsole "Call of Duty" spielen – Djokovic hält sich an eine Diät, neben der Tom Brady dasteht wie ein "Burger King"-Stammkunde. Die Red-Bull-Pizza hat ausgedient. Gluten? Nix da. Fleisch? Nein. Algensmoothies? Ja. Alkohol? Nein, außer hin und wieder einen Schluck italienischen Weins ("Französischer ist ein bisschen zu stark"). Keine Milchprodukte, kein Industriezucker. Wenn er sich etwas gönnen will, dann isst er ein Stück Schokolade.

Djokovic überwacht seinen Schlaf. Er trainiert mit einem Gerät an der Brust, das seine biometrischen Daten aufzeichnet. Während die Konkurrenz eine kollektive Liebe zu Videospielen aufweist (Daniil Medwedew hat 3.000 (!) Stunden Spielzeit "Rainbow Six Siege" auf dem Konto), lehnte Djokovic kürzlich einen Videospiel-Werbedeal ab, weil er nicht an das Produkt glaubte. Er verbringt seine Zeit lieber mit Tagebuchschreiben oder – noch lieber – mit seiner Frau Jelena und ihren gemeinsamen Kindern Stefan, 9, und Tara, 6.

Gesunder Lifestyle: So lebt Djokovic

Das mag nach großen Opfern klingen. Aber Djokovic sieht das anders. "Eigentlich ist es eher ein Lifestyle", erklärt er. "Und es war meine freie Entscheidung. So möchte ich essen, so möchte ich leben. Ich möchte genug schlafen und mich regenerieren. Ich möchte nach draußen gehen, in der Natur sein. Gut essen und trinken. Genügend Flüssigkeit zu mir nehmen. Trainieren, mich bewegen, aktiv sein. Ich versuche, eine Art holistischen, gesunden Ansatz zu leben."

Er trainiert sein Tennisspiel. Aber irgendwann – Jahre ist das bereits her – begriff er, dass er den gelben Filzball nur so und so oft über das Netz schlagen kann. Ganz abgesehen davon, dass das Muskelgedächtnis eine nicht zu unterschätzende Kraft ist. Er wird nicht verlernen, wie man aufschlägt. Er mag aktuell zwar "tüfteln", wie er selbst sagt, aber grundlegend ändern wird er seine Schlagtechnik nicht mehr, genauso wenig wie Basketballer Steph Curry seinen Wurfablauf.

Doch es gibt etwas anderes, das er mit zunehmender Häufigkeit weitertrainiert: seine Geisteskraft. "Die Leute glauben: Dass man körperliches Talent mitbringt, bedeutet automatisch auch, dass man über das geistige Talent verfügt, mit den Umständen und Situationen auf dem Platz zurechtzukommen", sagt er. "Aber so ist das nicht. Vor allem steckt dahinter jahrelange harte, hingebungsvolle Arbeit, um sich selbst besser kennenzulernen. Die Suche nach dem Rezept – dem emotionalen, psychologischen Rezept –, das gut mit dem Körper zusammen funktioniert, sodass am Ende der Erfolg steht."

Das Erfolgsgeheimnis von Djokovic

Als ich ihn um Einzelheiten bitte, verstummt er kurz. Dann beugt er sich vor, als habe er beschlossen, mir ein großes Stammesgeheimnis zu verraten. "Eine zentrale Rolle spielt bewusstes Atmen. Viele Leute glauben, das hätte nichts mit dem geistigen Aspekt zu tun. Hat es aber. Bewusstes Atmen ist superwichtig – besonders wenn man unter Spannung steht. Im Individualsport gibt es niemanden, der einen ersetzen kann, falls etwas schiefläuft. Man muss dafür sorgen, dass alles ganz einfach bleibt. Auf die Dinge achten, die einen im Hier und Jetzt verankern."

Novak Djokovic
Novak Djokovic
Credit: Sports Illustrated
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Durch Herumprobieren, sagt er, habe er eine weitere Bewältigungsstrategie für Stressmomente entwickelt: alles rauslassen, dann noch mal von vorn anfangen. "Der Unterschied zwischen den Jungs, die es schaffen, die größten Champions zu werden, und denen, die Schwierigkeiten haben, die höchste Ebene zu erreichen, besteht in der Fähigkeit, sich nicht übermäßig lange mit diesen Gefühlen aufzuhalten. Bei mir ist der Zeitraum relativ kurz. Ich erlebe so ein Gefühl, lasse es zu. Explodiere vielleicht, schreie auf dem Platz herum. Was auch immer. Aber dann kann ich mich ziemlich schnell resetten und wieder zu meinem inneren Ruhezustand zurückkehren."

Es funktioniert. Über Djokovic wird oft gesagt, sein Spiel habe keine Schwäche. Aber seine wahre Stärke ist die Unbezwingbarkeit seines Geistes. Kein anderer Spieler strahlt einen solchen Glauben an sich selbst aus. Kein anderer Spieler besitzt seinen Überlebensinstinkt, seine Fähigkeit, Bestleistungen zu zeigen, genau wenn es drauf ankommt.

Mit 36 Jahren: Djokovic so gut wie nie

So absurd es auch klingen mag – womöglich ist Djokovic jetzt, im Alter von 36 Jahren, auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Wie würde er sich heutzutage gegen sein 24-jähriges Ich schlagen, das 2011 drei Grand-Slam-Turniere gewann? Es könnte knapp werden, sagt er. "Vor zehn Jahren war ich schneller. Aber ich glaube, dass ich inzwischen vielleicht klüger spiele. Und ich kann besser als damals mit den Momenten umgehen, in denen ich extrem unter Druck stehe." Will sagen: Die Weisheit und das Selbstvertrauen, die sich mit den Jahren angesammelt haben, könnten durchaus den Sieg davontragen.

Wer sich auch nur etwas länger mit Djokovic unterhält, wird feststellen, dass er das Wort Motivation übermäßig häufig gebraucht. Seine eigene hat er aktuell verlagert. Die Federer/Nadal- Achse zu brechen hat er hinter sich. Nun gilt es, die neue Generation auszubremsen. "Ich habe aktuell nicht das Gefühl, etwas hinterherzujagen", sagt er, "sondern etwas zu erschaffen. Das ist derzeit Teil meiner Mentalität."

Vergangenes Jahr in Wimbledon, bei seiner einzigen Niederlage in einem Grand-Slam-Turnier im gesamten Jahr 2023, wurde Djokovic von dem Spanier Carlos Alcaraz mit seinen eigenen Mitteln geschlagen – einem Spieler, der mit seinen 20 Jahren altersmäßig näher an seinen Kindern war als an ihm selbst. Alcaraz spielte opportunistisch, spielte gleichzeitig defensiv und offensiv, blieb durchgängig fokussiert – und gewann in fünf Sätzen.

Djokovic gibt selbst zu, anschließend sei er einen ganzen Tag lang neben der Spur gewesen, "Ich-will-mit-niemandem-reden-mäßig aufgewühlt", wie er sagt. Gleichzeitig besaß er genug Grips, um zu wissen, dass diese neue Herausforderung letztlich etwas Positives war, da sie – ebenfalls seine Worte – die "Bestie" in ihm wecken würde. Mit frischer Motivation und Kampfeslust reiste er letzten Sommer in die USA, um sich für diese Niederlage zu rächen. "Ich war so wütend, dass ich alles auf US-Boden gewinnen musste. Was ich dann ja auch tat."

"Was ich dann ja auch tat": Das ist genau die Art Selbstverherrlichung, die Federer und Nadal stets vermieden. Sei’s drum. Djokovic gibt zu, dass er lange versucht hat, den Leuten zu gefallen und der Öffentlichkeit zu geben, was sie will. Jetzt befindet er sich in einer Phase, in der er – um mal den Lifestylemagazin-Jargon zu nutzen – seinem wahren Ich treu bleibt. Der Öffentlichkeit missfällt seine Entscheidung, sich nicht gegen das Coronavirus impfen zu lassen? Der junge US-Spieler Ben Shelton findet es unmöglich, dass Djokovic ihn schlägt und seinen Sieg feiert, indem er sich über seine typische Geste lustig macht? Die Traditionalisten in Wimbledon haben etwas dagegen, wenn Djokovic gegen den Netzpfosten haut? Tja, ihr Problem.

Tief durchatmen im Königreich

Gleichzeitig hat sich parallel zu dieser Entwicklung etwas Witziges (und Lehrreiches) ereignet. Ausgerechnet jetzt, wo Djokovic sich nicht mehr so viele Gedanken macht und seine Äußerungen nicht schon vorab selbst zensiert, sondern einfach er selbst bleibt, ist er beliebt wie nie. Er wird nicht mehr zum Schnauzbart-zwirbelnden Cartoon-Bösewicht der Tenniswelt hochstilisiert. Ganz im Gegenteil. Bei den Australian Open 2024 war er der Star des Events, sein Gesicht prangte auf allen Schildern des Leitsystems, und bei jedem Sponsoring-Event und jeder Zeremonie war er ein gefragter (und häufig auch tatsächlich anwesender) Gast. "Vielleicht liegt es daran, dass Roger und Rafa nicht da sind", sagt er. "Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass mehr Liebe vom Publikum kommt, und das weiß ich sehr zu schätzen, es ist keine Selbstverständlichkeit für mich."

Woran er merken wird, wann es Zeit ist zu gehen? "Vielleicht rückt der Punkt näher, wenn ich nicht mehr die Grand-Slam-Turniere gewinne. Wenn es mir nicht mehr gelingt, meinen Platz unter den Hauptanwärtern auf die großen Titel zu halten. Und wenn die jungen Spieler erst mal anfangen, mir den Hintern zu versohlen, überdenke ich vermutlich alles und stelle infrage, ob ich überhaupt noch weitermachen sollte. Aber im Augenblick ist alles gut."

So gut sogar, dass er ganz tief und bewusst durchatmen kann. Noch ist es sein Platz. Sein Königreich.



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