Olympische Spiele

Timo Boll: "Ich war sehr skeptisch, ob ich es nochmal zu Olympia schaffe"

Timo Boll ist einer der bemerkenswertesten Sportler, die Deutschland jemals hatte. Zwar hat er noch kein Olympia-Gold gewonnen, nimmt in Paris 2024 aber an seinen siebten Sommerspielen teil. Im Sports-Illustrated-Interview spricht er über seine Karriere.

Tischtennis-Ass Timo Boll
Credit: Getty Images
 

Sports Illustrated: Im Alter von vier Jahren hatten Sie zum ersten Mal einen Tischtennisschläger in der Hand. Warum haben Sie sich in diesen Sport verliebt?

Timo Boll: Als Kind hatten es mir alle Ballsportarten angetan, egal ob Tennis, Fußball oder Tischtennis. Wir hatten eine Tischtennisplatte zu Hause, an der ich fast jeden Tag gespielt habe. Bis ich sieben, acht Jahre alt war, habe ich eigentlich alles parallel gemacht, als Fußballer habe ich einmal 90 Tore in einer Saison geschossen. Aber ich bin beim Tischtennis hängen geblieben und stand mit acht zum ersten Mal im Hessen-Kader. Meine Eltern haben mich fünfmal pro Woche zum Training nach Frankfurt gefahren, eine Stunde hin und wieder zurück. Aus dem Hobby wurde dann irgendwann Liebe.

Sports Illustrated: Sie gehören seit über 20 Jahren zu den besten Tischtennisspielern der Welt. Was hat Sie motiviert, sich über so einen langen Zeitraum jeden Tag im Training zu quälen?

Boll: Ich hatte ein gutes Umfeld, das Rhythmus und Routine reingebracht hat. Da gab es keine Diskussion, ob heute trainiert wird oder nicht. Es war normal, jeden Tag nach Frankfurt zu fahren und am Wochenende die Turniere zu spielen. Auch wenn die Trainingslager während der Ferien stattfanden, hat mir das Spaß gemacht.

Sports Illustrated: Ihr Bundesliga-Debüt haben Sie 1996 bereits im Alter von 15 Jahren gefeiert. Wie sind Sie in diesem Alter mit dem Druck und der Erwartungshaltung umgegangen?

Boll: Das war kein Problem, weil ich vor den Wettkämpfen manchmal gar nicht wusste, wo wir hinfahren. Ich habe meistens erst auf der Fahrt gefragt, wohin es geht und was ansteht. Anders war es bei meinen Teamkollegen, manchen wurde vor Nervosität im Auto schlecht. Aber ich war entspannt, das habe ich mir beibehalten.

Tischtennis-Ass Timo Boll
Tischtennis-Ass Timo Boll
Credit: Sports Illustrated
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Sports Illustrated: Mittlerweile sind Sie 43 Jahre alt. Welche Dinge würden Sie dem jungen Timo Boll im Rückblick raten?

Boll: Die Sportart hat sich brutal entwickelt. Darum bin ich froh, dass ich mich über die Jahrzehnte an die vielen Regeländerungen sowie die veränderte Art des Spielens anpassen und mich darauf einstellen konnte. Wenn ich mir Videos von früher anschaue, war ich manchmal nicht zielstrebig genug und habe die Fehler bei anderen gesucht. Das konnte ich abstellen. Ich bin sehr zufrieden, wie alles gelaufen ist.

Sports Illustrated: Sie beschreiben sich als Perfektionist, der selbst die Hausaufgaben seiner Tochter genau kontrolliert. Waren Akribie und Detailversessenheit wichtige Schlüssel für Ihren Erfolg als Tischtennisspieler?

Boll: Ich denke schon, dass ich ein Perfektionist bin. Ich war nie zufrieden. Aber es hat Spaß gemacht, an mir herumzutüfteln. Ich war vielleicht nicht derjenige, der wie Jörg Roßkopf nach dem Training noch eine Extraschicht Beinarbeit drangehängt hat, ich habe eher kürzer trainiert. Dafür war es mir wichtig, dass ich beim Training keinen einzigen Ball hatte, bei dem ich unkonzentriert war.

Sports Illustrated: Sie gelten als einer der fairsten Sportler der Welt. Steckt dieser Fairness-Gedanke tief in Ihnen drin?

Boll: Früher habe ich auch mal einen Kantenball mitgenommen, den keiner gesehen hat, und habe es nicht zugegeben. Aber es hat sich schlecht angefühlt, so zu gewinnen. Das wollte ich irgendwann nicht mehr und habe es abgestellt. Ich habe nie erwartet, dass ich selbst so behandelt werde, habe aber mein Ding durchgezogen. Langfristig hat sich das gelohnt, da ich irgendwann gemerkt habe, dass meine Gegner auch sehr fair zu mir waren. So hat sich das im Tischtennis etabliert: dass man den Schiedsrichter bei Fehlern korrigiert, wenn der gegnerische Ball noch die Platte berührt und der Referee das nicht erkannt hat. Ich bin froh, dass ich einen kleinen Anstoß für mehr Fairness in unserem Sport geben konnte.

Sports Illustrated: Im vergangenen Jahr mussten Sie wegen einer Schulterverletzung mehrere Monate aussetzen und fielen in der Weltrangliste zeitweise aus den besten 150 Plätzen heraus. Wie haben Sie es geschafft, wieder so stark zurückzukommen?

Boll: Das war ein komisches Gefühl. Zuvor stand ich fast meine gesamte Karriere über in den Top 5 oder Top 10. Auf einmal war ich auf Platz 200 und hätte eigentlich gar kein Turnier mehr mitspielen dürfen. Aber ich habe zwei, drei Wildcards bekommen, meine Chance ergriffen und gut gespielt. Es gab aber Wochen, in denen ich bezweifelt habe, ob ich das hohe Niveau noch einmal erreichen kann. Es war nicht nur die Schulter, sondern auch der Rest meines Körpers, der nicht mehr der ist, der er einmal war. Ich war sehr skeptisch, ob ich es noch einmal zu Olympia schaffen würde.

Sports Illustrated: Sie wohnen teilweise in einem Wohnmobil auf einem Parkplatz, um näher an der Trainingshalle von Borussia Düsseldorf zu sein. Sind Ihnen Annehmlichkeiten und Luxus nicht wichtig?

Boll: Das ist für mich Luxus. Ich steige aus meinem Wohnmobil und habe nur 20 Meter bis zum Halleneingang, da verliere ich also keine Zeit. Aber das sind nur Phasen, auf Dauer könnte ich das nicht. Ich sehe meine Familie sehr wenig und muss unheimlich viel Reha und Physiotherapie machen. Aber ich habe in meinem Wohnmobil alles, was ich brauche, von der Eiswürfel- bis zur Kaffeemaschine.

Sports Illustrated: In Paris nehmen Sie an Ihren siebten Olympischen Spielen teil. Dieses Kunststück haben aus Deutschland bisher nur Ralf Schumann (Schießen, 1988 bis 2012) und Ludger Beerbaum (Springreiten, 1988 bis 2008 und 2016) geschafft. Wie groß war die Freude, als Sie Bundestrainer Jörg Roßkopf nominiert hat?

Boll: Schon groß. Allerdings freue ich mich erst richtig, wenn Olympia gut gelaufen ist. Ich habe anderen den Platz weggenommen, die es auch verdient hätten. Deswegen mache ich mir Druck, eine gute Leistung abzuliefern. Ich will das Gefühl haben, wirklich alles gegeben zu haben.

Sports Illustrated: In Ihrer Karriere haben Sie viel gewonnen, zu Olympia-Gold hat es noch nicht gereicht. Wie groß ist der Wunsch, zum Abschluss Ihrer Karriere im Teamwettbewerb zusammen mit Dang Qiu und Dimitrij Ovtcharov die Goldmedaille zu holen?

Boll: Das wird superschwer. Wenn wir ins Finale gegen China kommen sollten, wäre das, wie im Tennis zu deren besten Zeiten gegen Novak Djokovic, Rafael Nadal und Roger Federer anzutreten. Bis zu einem möglichen Endspiel ist es aber ein verdammt langer Weg, da das Niveau dahinter auch viel ausgeglichener geworden ist. Aber wenn wir die Chinesen vor der Flinte haben, wollen wir alles tun, um sie endlich mal zu schlagen. Es wäre schön, wenn es dazu kommen würde.

Timo Boll bei Olympia 2008 in Peking
Timo Boll bei Olympia 2008 in Peking
Credit: Sports Illustrated
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Sports Illustrated: Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro haben Sie die deutsche Flagge getragen. Was bedeutet Ihnen dieser Moment im Rückblick?

Boll: Das war eine große Ehre für mich. Mich haben damals die anderen Sportler sowie die Öffentlichkeit gewählt und nicht irgendein Gremium. Ich hatte vorher mit Dirk Nowitzki darüber gesprochen, für ihn war das auch die größte Ehre in seiner Karriere. Er riet mir, diesen Moment wirklich aufzusaugen.

Sports Illustrated: Sie haben einmal gesagt, man müsse Sie irgendwann von der Platte zerren. Nach Paris beenden Sie Ihre internationale Karriere. Wie schwer ist Ihnen diese Entscheidung gefallen?

Boll: Ich habe immer sehr an meiner Sportart gehangen und eigentlich nicht gewusst, wie ich überhaupt aufhören soll. Dieser Sport macht mir immer noch so viel Spaß. Aber ich spüre, dass immer mehr Quälerei dabei ist. Man muss immer öfter mit Schmerzen spielen, und es läuft nicht mehr so, wie man sich das vorstellt. Das frustriert sehr. Mit meiner letzten Teilnahme an Olympischen Spielen ist das aber eine runde Geschichte. Danach spiele ich zum Abschied noch eine Saison mit Borussia Düsseldorf – und gehe dann endgültig in Sportler-Rente.

Sports Illustrated: An der Tischtennisplatte und im privaten Leben strahlen Sie eine unheimliche Ruhe aus. Gibt es Dinge, die Sie zur Weißglut bringen?

Boll: Ich bin ein sehr ausgeglichener Mensch. Da muss schon etwas Schlimmes passieren, das ist mir zum Glück bislang erspart geblieben. Manchmal sind es eher Kleinigkeiten, über die man sich eigentlich gar nicht so aufregen sollte.

Sports Illustrated: Ihre Sehfähigkeit liegt nach eigenen Aussagen bei 280 Prozent. Stimmt es, dass Sie die Markierung am Tischtennisball nutzen, um den Spin des Gegners zu erkennen?

Boll: Ja, das stimmt. Meine Augen sind zwar etwas schlechter geworden, denn es ist unfassbar anstrengend, sich so auf den Ball zu fokussieren. Das gelingt mir nicht mehr so wie früher, allerdings ist meine Sehstärke immer noch überdurchschnittlich. Ich versuche, den Schnitt des Stempels am Ball zu erkennen. Nicht nur, in welche Richtung er sich dreht, sondern auch, wie stark, sodass man die Rotation erkennen kann. Dadurch kann ich den perfekten Winkel meines Schlägers einstellen, um die Bälle zentimetergenau zurückzuschlagen.

Sports Illustrated: In Deutschland können Sie sich fast unerkannt auf der Straße bewegen. In China sind Sie hingegen ein absoluter Superstar.

Boll: Ich habe in China sehr früh und erfolgreich gespielt. Mit 17 Jahren habe ich den Vizeweltmeister geschlagen und mit Anfang 20 meinen ersten großen internationalen Titel beim World Cup gegen den amtierenden Olympiasieger gewonnen. Damals habe ich mein Idol Kong Linghui besiegt und wurde über viele Jahre zu einem der Hauptkonkurrenten der Chinesen um die großen Titel. Das hat kein anderer ausländischer Spieler geschafft. Dass ich immer fair aufgetreten bin, haben die Chinesen mir sehr hoch angerechnet. Deshalb hatte ich sogar gegen die chinesischen Spieler das Publikum oft auf meiner Seite.

Sports Illustrated: 2007 hat Sie ein chinesisches Frauen-Magazin zum attraktivsten Sportler der Welt vor David Beckham gewählt. Hat Sie das damals geehrt?

Boll: Das war mir eher unangenehm, weil mich meine Teamkollegen ordentlich damit aufgezogen haben. Auf der einen Seite ist das eine Ehre, es war aber auch anstrengend. Ich freue mich, dass ich in China immer noch so populär bin. Immerhin hat mir diese Popularität auch einige Sponsoren gebracht. Mittlerweile nennen sie mich dort nur noch "Uncle Boll".

Tischtennis-Ass Timo Boll
Tischtennis-Ass Timo Boll
Credit: Sports Illustrated
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Sports Illustrated: China ist die Tischtennis-Weltmacht. Warum gibt es dort so viele herausragende Spieler?

Boll: China hat ein perfektes Sportsystem, viele gute Trainer und eine wahnsinnige Menge an Talenten. Dort möchte jeder Tischtennisstar werden. Die Eltern unterstützen das und investieren ihr ganzes Geld in die Karriere ihrer Kinder. Ich kann mich noch an einen Top-Trainer erinnern, der nach einem verlorenen Spiel rausgeschmissen wurde. Ich habe ihn später gefragt, was er jetzt macht. Er antwortete, dass er als Tischtennis-Coach in einem Kindergarten arbeitet.

Sports Illustrated: Was muss man in Deutschland tun, um Tischtennis populärer zu machen?

Boll: Wir probieren viel und haben es mittlerweile geschafft, dass man Tischtennis als Sportart ernst nimmt. Als ich angefangen habe, war das noch eine Schwimmbad- oder Garagen-Sportart. Wir sind auf einem guten Weg, müssen uns aber gegen viele andere Sportarten behaupten. Wenn man vorne dabei ist, kann man mittlerweile gut von diesem Sport leben.

Sports Illustrated: Sie stammen aus einer Bäckerfamilie. Eine Ihrer Schwächen sind süße Teilchen. Wozu können Sie nicht Nein sagen?

Boll: Zu einem frisch gebackenen Streuselkuchen und einem guten Kaffee. Wenn ich keine Wettkämpfe habe, gönne ich mir gerne eine Pizza. Früher habe ich alle möglichen Diäten ausprobiert. Aber wenn man auf viele Dinge verzichtet und in der zweiten Runde rausfliegt, fragt man sich schon, was das bringt. Man muss mit sich selbst im Reinen sein und ein Gefühl dafür entwickeln, was für einen selbst am besten passt. Mittlerweile bin ich da relativ entspannt. Ich muss fit sein. Ob ich dabei ein Kilo mehr oder weniger habe, darauf kommt es nicht an.

Sports Illustrated: Neben dem Sport setzen Sie sich für soziale Projekte ein und helfen mit der Stiftung Acción Humana Straßenkindern in Honduras. Warum ist Ihnen das wichtig?

Boll: Bei meinem ehemaligen Verein TTV Gönnern waren einmal Kinder von dort zu Besuch. Das war herzzerreißend, wie lieb und dankbar sie waren. Mittlerweile versuche ich selbst ein bisschen zu helfen. Ebenso wie bei der Kinderhilfe Organtransplantation. Eltern haben mir berichtet, was für schwere Schicksale ihre Kinder durchleben müssen. Das ist ergreifend, da kommen einem manchmal die Tränen, wenn man das hört.

Sports Illustrated: Wie geht es nach Ihrer Karriere weiter?

Boll: Ich werde Dinge ausprobieren und sehen, was mir Spaß macht und wo ich gebraucht werde. Ich habe einige langfristige Sponsorenverträge, die auch weiterhin China- Trips beinhalten. Eine Karriere als Trainer kann ich mir aber nicht vorstellen. Das Leben, das ich in den vergangenen 30 Jahre hatte, war extrem fordernd für meine Familie. Deshalb will ich ihr das nicht mehr antun, 300 Tage im Jahr unterwegs zu sein, möchte mehr Zeit mit ihr verbringen. Meine Tochter ist jetzt zehn Jahre alt und hat noch Spaß, mit dem Papa etwas zu unternehmen. Darauf freue ich mich.



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