Olympische Spiele

Andrea Petković über die Sisyphos-Aufgabe Olympia

Die Olympischen Spiele neigen sich ihrem Ende zu. Für die Athleten bedeutet das: Vier Jahre harter Arbeit sind zu Ende, manchmal von Erfolg gekrönt, oft auch nicht. In manchen Sportarten dauert es wieder genauso lange, bis sich wieder eine solch große Chance auftut.

Andrea Petkovic mit einem Tennisschläger
Credit: Imago

Ich war vor kurzem in Paris. Die French Open standen an, ich war fürs amerikanische Fernsehen gebucht, das immer in Schichten arbeitet, und wusste also, dass ich täglich einen halben Tag für mich haben würde. Ich wollte die Schönheit der Stadt genießen. All die Dinge erkunden, die ich als Tennisspielerin nicht hatte erkunden können, um Energie fürs Match zu sparen.


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Die Dinge, die ich erkundete: Bauskelette aus Metall, halb aufgebaute Tribünen, ein leeres Schwimmbad, Umrisse der Zukunft. Es stand schon vieles, aber nichts war vollendet. So war es zumeist ein städtegroßes Ratespiel, durch die Straßen zu wandern und zu versuchen zu erahnen, welche Sportart wo stattfinden würde. Denn es ist wieder so weit: Die Olympischen Spiele stehen vor der Tür. Diesmal nicht einen halben Kontinent und drei Zeitzonen entfernt, sondern vor der Haustür. Ich sage: Es ist schon wieder so weit.

Tennis ist anders als andere Sportarten: Jeder Montag ein neuer Blankoscheck an Möglichkeiten

Als Sportfan habe ich das Gefühl, von Sportevent zu Sportevent zu hetzen. Als Tennisfan sowieso, mit den vier Grand-Slam-Turnieren im Jahr. Für viele Sportler und Sportlerinnen – besonders diejenigen, für die die Spiele das womöglich wichtigste Ereignis ihrer Laufbahn sein werden – ziehen sich die vier Jahre, die zwischen den Olympischen Spielen liegen, allerdings wie Kaugummi. Man muss als Tennisspielerin zwar fast jede Woche mit Niederlagen umgehen, aber das bedeutet auch, dass man jede Woche eine neue Chance bekommt. Von Januar bis tief in den November hinein erhältst du jeden Montag einen Blankoscheck an Möglichkeiten, dein Schicksal in die Hand zu nehmen, alles besser und alles anders zu machen.

Viele andere Sportlerinnen haben diesen Luxus nicht. Sie müssen funktionieren, manchmal an einem einzigen Tag für weniger als eine Minute. Für diese Athleten müssen sich die vier Jahre wie ein ganzes Leben anfühlen. Ein Leben, darauf ausgerichtet, an einem Tag, in einer Woche zu funktionieren, zu leisten, zu performen. Das kann nur einer Sisyphos-Aufgabe gleichkommen. Ewige Qualen, das ewige Fast-Erreichen des Gipfels, bevor der Stein wieder runterkullert.

Alle Sportler und alle Sportlerinnen kennen das Gefühl der Angst, dem Körper möglicherweise beim Versagen zusehen zu müssen. Nur Olympioniken und Olympionikinnen sehen dabei auch vier Jahren harter Arbeit beim Zwischen-den-Fingern-Zerrinnen zu. Ich war einmal bei Olympia. 2016 in Rio de Janeiro in Brasilien. Ich verbrachte die meiste Zeit im Kraftraum, fasziniert davon, anderen Sportlern und Sportlerinnen zuzugucken. Ich versuchte, anhand der Körpertypen die Sportarten zu erraten, und sah mir Übungen ab. Ich erstarrte zur Salzsäule, als die brasilianische Volleyballmannschaft auf einmal neben mir auf dem Fahrrad saß, und stellte erleichtert fest, dass die Schwimmerinnen noch breitere Kreuze hatten als ich – und trotzdem alle blendend aussahen.

Petković: "Trage Athletinnen im Herzen, bei denen es vier Jahre bis zur nächsten Chance dauert"

Was im olympischen Dorf überwiegt, ist das Gemeinschaftsgefühl. Obwohl wir alle anders sind, anders aussehen und verschiedenen Kulturen angehören, obwohl wir Rivalen und Rivalinnen im Essenssaal begegnen, stellen wir beim Zubettgehen fest, dass wir am Ende des Tages doch nur Verbündete sind. Verbunden im Ziel, das Bestmögliche aus sich herauszuholen, an jedem einzelnen verdammten Tag unseres Lebens. Und vielleicht fand darin dann auch Sisyphos eine gewisse Zufriedenheit. Der Schock kam, als ich wieder in Rio am Flughafen stand, normalen Körpern begegnete. Ich hatte mich zu sehr an 10.000 perfekt austrainierte gewöhnt.

In der ersten Runde hatte ich gegen Elina Svitolina in drei Sätzen verloren, die später Serena Williams schlagen sollte; Angie Kerber holte die Silbermedaille. Es war eine Niederlage, die schmerzte, aber der Unterschied war, dass ich eine Woche später in Cincinnati eine neue Chance bekam, mein Schicksal in die Hand zu nehmen, alles anders und alles besser zu machen. Ich war wochenlang dankbar. Bis heute trage ich alle Athleten und Athletinnen im Herzen, bei denen es vier Jahre bis zur nächsten Chance dauert.



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